Das schwierige Erbe der Habsburgermonarchie
Der amerikanische Historiker Pieter Judson stellt seine radikale Neubewertung der Habsburgermonarchie in Bozen vor
Wie bereits in den vergangenen beiden Jahren, möchte Geschichte und Region auch die diesjährige Mitgliederversammlung in ein historisches Rahmenprogramm einbetten. Wir uns sehr, im Anschluss an die Mitgliederversammlung gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der unibz zu einer öffentlichen Buchvorstellung laden zu dürfen
Pieter M. Judson präsentiert im Gespräch mit Marco Bellabarba
The Habsburg Empire. A new history
(Havard University Press 2016)
Um 19.30 Uhr
im Konferenzraum des Stadtarchivs Bozen, Lauben 30, 2. Stock
Es kommt in der Geschichtswissenschaft selten vor, dass neue Bücher etablierte Lehrmeinungen herausfordern und jahrzehntealte Erkenntnisse auf den Kopf stellen. Der in Florenz am renommierten „European University Institute“ lehrende Historiker Pieter Judson nimmt es in seinem neuen Buch „The Habsburg Empire. A New History“ gleich mit mehreren Meisterzählungen auf. Die Vorstellung der Habsburgermonarchie als unzeitgemäßem „Völkerkerker“, der die nationalen Rechte seiner Untertanen unterdrückte und deshalb nicht nur den Ersten Weltkrieg verlieren, sondern früher oder später zwangläufig kollabieren musste, lässt sich spätestens mit Judsons elegantem wie überzeugendem Buch nicht mehr halten. Es lehrt uns die provokante Einsicht, dass nicht die Habsburgermonarchie, sondern die Staaten, die ihr Erbe antraten, als eigentliche „Völkerkerker“ zu bezeichnen sind: Indem sie sich als National-Staaten definierten, hatten auf ihrem Boden sprachlich-kulturelle Minderheiten kein Existenzrecht mehr. Dass diese Staatsräson nach 1919 nur schwer haltbar, ja absurd war, zeigt sich nicht nur an der Geschichte Südtirols, sondern an beinahe jeder Region der ehemaligen Habsburgermonarchie. So sprachen etwa im tschechoslowakischen Nationalstaat zwei Millionen Menschen Deutsch als Muttersprache – deutlich mehr als Slowakisch.
Judsons „neue Geschichte“ setzt mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ein und stellt den schwierigen Weg der Staatsbildung in den Vordergrund, die die Habsburgermonarchie zwischen der pragmatischen Sanktion und dem Ersten Weltkrieg zurücklegte. Die dramaturgische Anlage des Buches weist drei zentrale Pfeiler auf: Judson schreibt das Buch aus der Perspektive des Imperiums selbst, er stellt also die Akteure, Absichten, Institutionen und Instrumente des sich ausbildenden kaiserlich-königlichen Zentralstaates in den Vordergrund. Die zweite und wohl entscheidende Besonderheit des Buches liegt darin, dass Judson die Erkenntnisse der Nationalismusforschung radikal umsetzt und anstatt von „Nationalismen“ konsequent von „Nationalisten“ spricht. „Nationen“ entpuppen sich so als politische Ideologien, die von Nationalisten erfunden und propagiert wurden – nicht die vermeintlichen „Nationalismen“ bereiteten also der Monarchie Probleme, sondern nationalistische Politiker und Agitatoren. Drittens gelingt es Judson nicht nur, einen stupenden Überblick über die komplexen habsburgischen Herrschaftskomplexe anzubieten, die sich von Vorarlberg nach Lemberg und von Krakau bis nach Sarajevo erstreckten, sondern die Monarchie stets in einen europäischen Vergleich zu setzen. Dabei zeigt sich, dass die Habsburgermonarchie keineswegs eine Anomalie, eine Ausnahmeerscheinung der europäischen Geschichte darstellte, sondern vielmehr einen außergewöhnlichen Normalfall. Kein europäischer Staat und keine Monarchie war jemals ein „Nationalstaat“, die Konflikte zwischen religiösen Gruppen und territorialen Minderheiten waren etwa in den beiden Parade-Nationalstaaten, im Deutschen Kaiserreich oder im Italienischen Königreich, wesentlich heftiger und gewaltsamer. Vielmehr gelang es der Habsburgermonarchie, bzw. nach 1867 der Österreich-Ungarischen Monarchie, soziale, ethnische und kulturelle Konflikte kreativ zu bewältigen und ausgleichende Maßnahmen zu setzen. Staat und Dynastie blieben bewusst neutral und übernational.
Pieter Judson legt eine faszinierende Studie vor, die der Habsburgermonarchie in der historischen Rückblende Gerechtigkeit verschafft. Er fordert die klassische Nationalgeschichtsschreibung ernsthaft heraus und zeigt auf, dass ihre Begriffe und Instrumente nicht hinreichen, um die europäische Geschichte darzustellen. Das Buch erinnert uns daran, dass Nationalstaaten nicht der Zielpunkt und das Ende der Geschichte sind, sondern vielmehr deren Produkt, das in Mitteleuropa das schwierige Erbe der Habsburgermonarchie angetreten hat: Die Nationalismen befreiten die Bürger der Habsburgermonarchie keineswegs, sondern drängten sie nach 1919 vielmehr gewaltsam in neue staatliche Käfige.